Von Hussein Pabarja - Bis zum ersten Quartal 2025 liegt das reale BIP Deutschlands laut dem Kieler Institut für Weltwirtschaft 9,7 % unter seiner Trendlinie vor der COVID-Pandemie. Gleichzeitig sind die Reallöhne um 7,9 % unter die prognostizierten Werte gefallen, bedingt durch inflationsbedingte Druck und Lohndämpfung—was die schärfste langfristige Lohnstagnation seit der Wiedervereinigung markiert. Diese wirtschaftliche Erosion hat den Weg für die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD) geebnet, die nun bundesweit bei 22% liegt und in Sachsen und Thüringen über 45% erzielt, insbesondere in Bezirken wie Görlitz, wo sie bei den Europawahlen 2024 48,8% der Stimmen gewann. Die Regierungsstrategie von Kanzler Friedrich Merz—die auf Wiederaufrüstung und fiskalischen Konservatismus setzt—scheint ungeeignet zu sein, diese Trends umzukehren, und könnte tatsächlich die öffentliche Enttäuschung vertiefen.
Die Merz-Doktrin: Wiederbewaffnung ohne Umverteilung
Im Mai 2025 änderte die von Merz geführte CDU-FDP-Koalition Artikel 109 des Grundgesetzes, wodurch die «Schuldenbremse» für Verteidigungszwecke effektiv ausser Kraft gesetzt wurde, während strenge Grenzen für nicht-militärische öffentliche Ausgaben beibehalten wurden. Dieser Schritt schuf zusätzlich 100 Milliarden Euro für die Beschaffung von Verteidigungsgütern und verlängerte den ursprünglich 2022 unter Olaf Scholz genehmigten Sonderfonds der Bundeswehr. Rüstungsunternehmen haben enorm profitiert. Die Rheinmetall AG, Deutschlands grösster Rüstungsproduzent, berichtete von einer jährlichen Wachstumsrate des Gewinns von 42% zwischen 2020 und 2024. Der Aktienkurs ist seit Anfang 2020 um über 1.300% gestiegen und erreichte im April 2025 einen Allzeithochstand. Doch dieser Gewinn hat sich nicht in ein robustes Beschäftigungswachstum übersetzt: Die inländische Belegschaft von Rheinmetall ist nur um 24% gewachsen, wobei viele neue Arbeitsplätze Niedriglohn- oder Zeitarbeitsverträge sind. Inzwischen wurde das zivile Schienenfahrzeugwerk in Görlitz in eine Panzerproduktionsstätte umfunktioniert, was die regionale Beschäftigung um fast 50% reduzierte. Diese Aushöhlung der zivilen Industrie in wirtschaftlich fragilen Regionen korreliert direkt mit dem steigenden AfD-Unterstützung—nun in ehemaligen Hochburgen der Linken normalisiert.
Austerität anderswo: Die Erosion des Zivilstaates
Während die Militärausgaben steigen, leidet die soziale und grüne Investition. Im Jahr 2023 beendete die Regierung abrupt die Subventionen für Elektrofahrzeuge und reduzierte die Unterstützung für den Ausbau erneuerbarer Energien, was zu kaskadierenden Effekten im gesamten Fertigungssektor führte. Volkswagen AG kündigte Anfang 2025 Pläne an, seine deutsche Belegschaft bis 2030 um 25% zu reduzieren, und nannte stagnierende Inlandsnachfrage und ein wettbewerbsfeindliches politisches Umfeld als Gründe. Die fiskalische Agenda der Koalition ist fest in der angebotsseitigen Orthodoxie verankert. Kanzler Merz hat Forderungen nach höheren Löhnen im öffentlichen Sektor abgelehnt und sich geweigert, soziale Transfers auszuweiten, mit der Begründung, dass Inflationskontrolle und Schuldenabbau oberste Priorität haben müssen. Doch wie Prof. Isabella Weber (Universität Massachusetts) und Tom Krebs (Universität Mannheim) argumentieren, ignoriert dieser Ansatz die grundlegenden Ursachen der politischen Unzufriedenheit: steigende Energiekosten, unbezahlbaren Wohnraum und einen kollabierenden Sozialstaat. Der durchschnittliche deutsche Haushalt gibt jetzt 36,2% seines verfügbaren Einkommens für Wohnen und Nebenkosten aus—ein Anstieg von 29% im Jahr 2019. Die reale Kaufkraft erodiert weiterhin, insbesondere bei einkommensschwächeren Gruppen, die am stärksten von regressiven Energiepreisen und Lebensmittelinflation betroffen sind.
Demokratischer Fallout: Autoritarismus durch Default?
Die AfD hat wirtschaftliche Verzweiflung zur Waffe gemacht. Offiziell als «Verdachtsfall extremistische Organisation» vom deutschen Inlandsgeheimdienst (BfV) eingestuft, gedeiht die Partei auf der Erosion des institutionellen Vertrauens. Nur 28 % der Deutschen haben Vertrauen in die Wirtschaftspolitik der Merz-Regierung, die niedrigste Zustimmungsrate für einen neuen Kanzler in der Nachkriegszeit (Infratest dimap, Mai 2025). Die Austeritätspolitik hat das Verbrauchervertrauen weiter gedrückt. Der GfK-Konsumklimaindex fiel im April 2025 auf -24,1 Punkte—deutlich unter dem Durchschnitt der Eurozone—was auf weit verbreiteten Pessimismus hinsichtlich der aktuellen und zukünftigen wirtschaftlichen Bedingungen hinweist. Merz' Priorisierung der militärischen Expansion über die innere Erneuerung erzeugt ein gefährliches politisches Paradoxon: Während die Sicherheitsbudgets wachsen, zieht sich der Staat von seinen demokratischen Verpflichtungen zu Inklusion, Gleichheit und Partizipation zurück. Dies nährt das populistische Narrativ, dass die politische Klasse von den alltäglichen Kämpfen entfremdet ist.
Alternative Strategie: Inklusive Prosperität als demokratisches Gegenmittel
Ein wachsender Chor von Ökonomen und Politikwissenschaftlern fordert einen neuen Ansatz. Weber und Krebs plädieren dafür, die Schuldenbremse in allen Sektoren auszusetzen, um strategische Investitionen in grüne Infrastruktur, Pflegearbeit, Wohnungsbau und digitale Transformation zu ermöglichen—jedes dieser Bereiche erzielt deutlich höhere Beschäftigungs- und BIP-Multiplikatoren als Verteidigungsausgaben. Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (IW) erzeugt jeder Euro, der in grüne öffentliche Investitionen fliesst, einen BIP-Effekt von 1,80 bis 2,40 Euro, im Vergleich zu 0,90 Euro für entsprechende Verteidigungsausgaben.
Politikvorschläge umfassen:
• Erhöhung des Mindestlohns auf 15 €/Stunde, was das Einkommen von über 7 Millionen Geringverdienern steigert.
• Erweiterung der öffentlichen Wohnungsbauprogramme zur Bekämpfung der städtischen Mietinflation, insbesondere in Berlin, München und Frankfurt, wo die Mieten seit 2019 um 38% gestiegen sind.
• Aufbrechen von Lebensmittel- und Energiemonopolen, Einsatz von Antitrustmassnahmen zur Senkung der Haushaltskosten.
• Öffentlicher Besitz an Energienetzen und Schienenverkehr, um Erschwinglichkeit und Modernisierung der Infrastruktur zu gewährleisten.
Deutschland kann auch aus dem U.S. Inflation Reduction Act und dem Made in China 2025-Programm Chinas lernen, die beide Industriepolitik mit Arbeitnehmerschutz kombinieren. Im Gegensatz dazu bietet Merz’ marktorientierter Rahmen keinen strukturellen Mechanismus, um Deutschlands rückläufige Innovation im Bereich Cleantech umzukehren, wo es nun sowohl bei Patentanmeldungen als auch bei der Produktion von Solarpanelen weit hinter den USA und China zurückliegt. Deutschland steht an einem Wendepunkt. Die Wahl steht nicht nur zwischen Sparmassnahmen oder Schulden, sondern zwischen demokratischer Erneuerung oder autoritärem Verfall. Indem die Merz-Administration den militärischen Auf- und den fiskalischen Sparmassnahmen Vorrang vor einer inklusiven wirtschaftlichen Erholung einräumt, riskiert sie, gerade die Bedingungen zu verstärken, die den Rechtsextremismus befeuern. Wie Weber und Krebs warnen: «Sparmassnahmen angesichts der Stagnation erzeugen keine Disziplin – sie erzeugen Verzweiflung.» Um seine liberal-demokratische Ordnung zu sichern, muss Deutschland entschlossen handeln. Strategische staatliche Interventionen, wachstumsorientierte Löhne und robuste öffentliche Dienstleistungen sind keine ideologischen Luxusgüter; sie sind Voraussetzungen für Stabilität im 21. Jahrhundert. Die Kosten des Nicht-Handelns könnten nicht nur wirtschaftliche Stagnation, sondern auch den Zusammenbruch der Demokratie sein.
Quelle:
Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)
Euronews
– Artikel: "Rheinmetall sees profit jump as Europe prepares for military splurge", 12. März 2025
GfK / NIM – Nürnberg Institut für Marktentscheidungen
– Artikel: "Consumer confidence March 2025: GfK Consumer Climate increases 0.1 points to -24.5 points for April 2025", 28. März 2025
Infratest dimap
– Umfrageergebnisse zur Vertrauensbewertung der Bundesregierung, Mai 2025
Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel)
Reuters
– Artikel: "The main points of Volkswagen's deal with unions on German sites and jobs", 20. Dezember 2024
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